Zu einer nicht-ästhetischen Kunstphilosophie
Statt einer Werk-Ästhetik eine Produktions-Sinn-thetik
(Auschnitte)
von Harald Lemke
Vorrang der Produktion über die Rezeption
Eine nicht-ästhetische Kunstphilosophie verlagert den
Schwerpunkt ihrer Grundbegriffe von der Wahrnehmung des Kunstwerks
durch die Betrachter zu der Tatsache künstlerischer Praxis
sowie der Kunstpräsentation. Kurz: Sie behauptet den
normativen Vorrang von Produktion und Präsentation gegenüber
der Rezeption. Dieser Vorrang des künstlerischen Tätigseins
leitet sich aus der gesellschaftlichen Tatsache ab, dass eine
"freigeistige" Reflexion unserer Gegenwart, also
dessen, wer wir sind, einzig aus solcher "präsenten"
Kunstproduktion hervorgeht. (Nicht jede Kunst, z.B. »schöne
Kunst«, versteht sich als präsente Kunst oder beansprucht
solche zu sein.)
Eine emanzipatorische Kunstphilosophie bringt diese Praxis
präsenter Kunst auf den Begriff und reflektiert den politischen
Sachverhalt, dass sich die kulturelle Substanz des Selbstverständnisses
einer demokratischen Gesellschaft aus der freigeistigen Sinnproduktion
präsenter Kunst speist. Vorrangig ist deshalb, dass Individuen
künstlerisch tätig sind und nicht, welche Kunst
sie machen. Ihre Arbeit bietet eine "sinnvolle"
Vergegenwärtigung der Gegenwart, der Wahrheit unserer
Selbst. Der individuelle künstlerische Versuch, Gegenwart
selbstreflektiv und selbstkritisch anzueignen, um Sinn zu
produzieren und ein eigenes Selbst-Verstehen zu präsentieren,
läßt sich als der eigentlich poetische Akt präsenter
Kunst bezeichnen. Entsprechend hält eine aktuelle Kunstphilosophie
dem traditionellen Schlüsselbegriff der Ästhetik
den der Sinn-Thetik entgegen: sinnvolle, präsente und
i.d.S. gute Kunst bringt Sinn hervor durch reflexive Aneignung
von Gegenwart; dies macht ihre sinnthetisierende Erkenntnisleistung
aus. Poetische Praxis als (frei-)geistige und sinnvolle Tätigkeit
zu bezeichnen, schließt keineswegs den körperlichen,
emotionalen und gemeinschaftlichen Charakter dieses Tuns aus.
Vielmehr ergibt sich der jeweilige und ganz unterschiedliche
Spielraum und Grad an Ausdruckssprache aus den jeweiligen
Projekten und Kunstformen. Sinnthetisch gesehen, beinhaltet
aber jede künstlerische Arbeit geistige Arbeit. Von daher
ist zum einen das Vorurteil
zurückzuweisen, eine philosophische Betrachtung der Kunst,
die den Zweck derselben nicht in der schöngeistigen Erbauung
und einem interessenlosen sinnlichen Wohlgefallen sieht, sondern
über ihre Sinnfunktion (als dem Verstehen der Wahrheit
von Welt und Selbst) bestimmt, führe zu einem kunstfeindlichen
Kognitivismus. Zum anderen lässt sich auch die immer
noch grassierende Genievorstellung der romantischen Ästhetik
vermeiden: zum
praxologischen Charakter künstlerischer Arbeit gehört
der Umstand, dass alles an ihr eine Sache der Praxis, und
das heißt, der Übung und praktischen Erfahrung
ist demgegenüber hilft göttliche Eingebung
oder geheimnisvolle Begabung wenig. Um in ihrer Arbeit gut
zu sein, müssen Künstler tätig sein und so
erst gut werden können. Das heißt, die gesellschaftliche
Existenz bzw. Wahrscheinlichkeit von sinnvoller Kunst hängt
wesentlich von äußeren, institutionellen und finanziellen,
etc. Rahmenbedingungen ihrer Produktion ab. Sollten diese
wie auch immer gegeben sein, wird den künstlerisch
Tätigen, um sich mitzuteilen, die Arbeit eines methodischen,
d.h. nachvollziehbaren Sinnmachens abverlangt, nämlich
die Notwendigkeit, das eigene Selbst-Verständnis zu einer
Allgemeinheit, einer allgemeinen Selbst-Verständlichkeit
zu bilden. Für den Künstler, für die Künstlerin
ist diese methodische Reflexion und dieses allgemeine Sichverständlichmachen
auf das hin, um dessen Sinn es dabei geht (gehen soll), der
vorrangige Zweck der eigenen Arbeit.
Die künstlerisch Tätigen präsentieren ein
individuelles Welt- und Selbst-Verständnis und teilen
dieses der Allgemeinheit mit. In solcher Gegenwart vergegenwärtigenden
Sinn-Präsentation verwirklicht sich die thetische und
tätige Präsenz des Kunstschaffens. Trotz des normativen
Vorrangs des künstlerischen Tätigseins beruht die
Poetologie freier Kunst letztlich aber darin, dass erst in
der präsentativen Vermittlung und Rezeption Kunst zu
Sinn wird . Erst indem das Produzierte, d.h. der beanspruchte
und mitgeteilte Sinn von Anderen verstanden wird, vollendet
sich präsente Kunst. Fehlende Präsentationsmöglichkeiten
und Resonanz lässt deshalb die künstlerische Betätigung
auch (bis auf weiteres) sinn- und zwecklos erscheinen.
Rezeption: Verstehen statt Wahrnehmen. Präsente statt
ästhetische Kunst
Trotz des normativen Vorrangs der künstlerischen Praxis
besteht ein faktisches Übergewicht ihrer Präsentation
und Rezeption bzw. ihrer präsentativen Vermittlung. In
den traditionellen Ästhetiken sind diese beiden, analytisch
zu unterscheidenden Ebenen zumeist vermischt. Aber ihre ontologische
Differenz hat eine zentrale Bedeutung für die philosophische
Betrachtungsweise von Kunst. Denn die individuelle Beurteilung
einer Arbeit bezieht sich nicht auf den Sachverhalt, dass
Kunstmachen ein Gut für sich sei. Künstlerische
Praxis ist gut für den so Tätigen, insofern in diesem
Tätigsein eine freigeistige Selbsterkenntnis und Lebenspraxis
verwirklicht bzw. die Wirklichkeit der sinnvollen Aneignung
eines
individuellen Gegenwartsverständnisses ein Allgemeingut
wird. Darüber hinaus ist freie Kunstproduktion als Verwirklichungsgeschehen
geistiger Freiheit gut für alle und ein demokratisches
Gut, insofern es dabei um den unersetzlichen Versuch geht,
von der Freiheit des Geistes zum Zwecke einer allgemeinen
Selbstverständigung öffentlichen Gebrauch zu machen.
Welche Bedeutung und
welchen Wert Kunst im einzelne für die kulturelle Selbstbestimmung
der Allgemeinheit hat, muss sich herausstellen können.
Die gewöhnliche Kunstrezeption betrachtet das voraussetzungsvolle
Faktum, dass Individuen existieren, die für poetische
Praxis tätig sind und für sich und die Allgemeinheit
freigeistige Kunst produzieren, unbedacht als etwas Selbstverständliches.
Eine philosophische Reflexion der Kunst nimmt die gesellschaftliche
Gegebenheit und individuelle Tatsache künstlerischen
Tätigseins nicht für selbstverständlich; sie
expliziert vielmehr die konstitutiven Voraussetzungen für
die Faktizität dieser Praxis.
Was aber im Einzelfall gute, was schlechte, was schöne,
was unsinnige Kunst ist, welche Wahrheit der Kunst verstanden
wird und welche Kunst nur als schöner Schein gefällt
und gefallen soll darüber urteilt der einzelne
Rezipient und die interessierte Öffentlichkeit, die die
Einzelnen zusammen als Allgemeinheit (Publikum) bilden. Das
Verstehen des Sinns des Präsentierten verlangt den Rezipienten
ein reflektiertes, seinerseits freigeistiges Erkenntnisinteresse
ab. Die Rezeption präsenter Kunst gelingt nicht, wie
dies vielleicht für schöne Kunst der Fall sein mag,
in der künstlich zweckfreien Einstellung eines interessenlosen
Wohlgefallens. Die versuchte Wahrheit von Kunst entzieht sich
einer naiven Selbstverständlichkeit des Gegenwartsverstehens.
Die Kunstrezeption kann nur unter der Voraussetzung einer
individuellen Bereitschaft zur geistigen Auseinandersetzung
gelingen. Nicht durch die ganz beliebige, bloß schöngeistige
Haltung wird etwas zu Kunst; dargebotene Kunst erweist sich
als sinnig, d.h. als ein allgemeines Welt- und Selbstverstehen
hervorrufendes Ereignis, sofern sie individuell, d.h. bei
jedem rezipierenden Individuum jedesmal neu, verstanden wird.
Im Verstandensein der präsentierten Sinns ereignet sich
Kunst als Wahrheit. Dann ist die individuelle Erkenntnis (von
Seiten der Rezipienten) ein Verständnis der individuellen
Erkenntnis von Gegenwart (von Seiten der Produzenten).
Künstler, die ihre Präsentationsmöglichkeit
nicht
einfach dafür nutzen, die von ihnen verfertigte Arbeit
zu präsentieren, sondern die situative Präsenz und
Aktion der Kunst derart gebrauchen, dass die anwesenden Rezipienten
einen Bestandteil der Produktion bilden, radikalisieren die
Erkenntnisfunktion von freier Kunst solche situationistische
Praxis legt den Wahrheitskern der Kunst, den Selbst-Verständigungsprozess,
für die beteiligten Individuen als ein Allgemeines frei.
Diese Kunstpraxis funktioniert wenn sie funktioniert
als die ereignishafteste Aneignungsform unserer Gegenwart.
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