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> Zu einer nicht-ästhetischen Kunstphilosophie (Ausschnitt)
von Harald Lemke
   
 
    Tetrapak | April 2001
 

Zu einer nicht-ästhetischen Kunstphilosophie

Statt einer Werk-Ästhetik eine Produktions-Sinn-thetik (Auschnitte)

von Harald Lemke

Vorrang der Produktion über die Rezeption
Eine nicht-ästhetische Kunstphilosophie verlagert den Schwerpunkt ihrer Grundbegriffe von der Wahrnehmung des Kunstwerks durch die Betrachter zu der Tatsache künstlerischer Praxis sowie der Kunstpräsentation. Kurz: Sie behauptet den normativen Vorrang von Produktion und Präsentation gegenüber der Rezeption. Dieser Vorrang des künstlerischen Tätigseins leitet sich aus der gesellschaftlichen Tatsache ab, dass eine "freigeistige" Reflexion unserer Gegenwart, also dessen, wer wir sind, einzig aus solcher "präsenten" Kunstproduktion hervorgeht. (Nicht jede Kunst, z.B. »schöne Kunst«, versteht sich als präsente Kunst oder beansprucht solche zu sein.)

Eine emanzipatorische Kunstphilosophie bringt diese Praxis präsenter Kunst auf den Begriff und reflektiert den politischen Sachverhalt, dass sich die kulturelle Substanz des Selbstverständnisses einer demokratischen Gesellschaft aus der freigeistigen Sinnproduktion präsenter Kunst speist. Vorrangig ist deshalb, dass Individuen künstlerisch tätig sind und nicht, welche Kunst sie machen. Ihre Arbeit bietet eine "sinnvolle" Vergegenwärtigung der Gegenwart, der Wahrheit unserer Selbst. Der individuelle künstlerische Versuch, Gegenwart selbstreflektiv und selbstkritisch anzueignen, um Sinn zu produzieren und ein eigenes Selbst-Verstehen zu präsentieren, läßt sich als der eigentlich poetische Akt präsenter Kunst bezeichnen. Entsprechend hält eine aktuelle Kunstphilosophie dem traditionellen Schlüsselbegriff der Ästhetik den der Sinn-Thetik entgegen: sinnvolle, präsente und i.d.S. gute Kunst bringt Sinn hervor durch reflexive Aneignung von Gegenwart; dies macht ihre sinnthetisierende Erkenntnisleistung aus. Poetische Praxis als (frei-)geistige und sinnvolle Tätigkeit zu bezeichnen, schließt keineswegs den körperlichen, emotionalen und gemeinschaftlichen Charakter dieses Tuns aus. Vielmehr ergibt sich der jeweilige und ganz unterschiedliche Spielraum und Grad an Ausdruckssprache aus den jeweiligen Projekten und Kunstformen. Sinnthetisch gesehen, beinhaltet aber jede künstlerische Arbeit geistige Arbeit. Von daher ist zum einen das Vorurteil
zurückzuweisen, eine philosophische Betrachtung der Kunst, die den Zweck derselben nicht in der schöngeistigen Erbauung und einem interessenlosen sinnlichen Wohlgefallen sieht, sondern über ihre Sinnfunktion (als dem Verstehen der Wahrheit von Welt und Selbst) bestimmt, führe zu einem kunstfeindlichen Kognitivismus. Zum anderen lässt sich auch die immer noch grassierende Genievorstellung der romantischen Ästhetik vermeiden: zum
praxologischen Charakter künstlerischer Arbeit gehört der Umstand, dass alles an ihr eine Sache der Praxis, und das heißt, der Übung und praktischen Erfahrung ist – demgegenüber hilft göttliche Eingebung oder geheimnisvolle Begabung wenig. Um in ihrer Arbeit gut zu sein, müssen Künstler tätig sein und so erst gut werden können. Das heißt, die gesellschaftliche Existenz bzw. Wahrscheinlichkeit von sinnvoller Kunst hängt wesentlich von äußeren, institutionellen und finanziellen, etc. Rahmenbedingungen ihrer Produktion ab. Sollten diese – wie auch immer – gegeben sein, wird den künstlerisch Tätigen, um sich mitzuteilen, die Arbeit eines methodischen, d.h. nachvollziehbaren Sinnmachens abverlangt, nämlich die Notwendigkeit, das eigene Selbst-Verständnis zu einer Allgemeinheit, einer allgemeinen Selbst-Verständlichkeit zu bilden. Für den Künstler, für die Künstlerin ist diese methodische Reflexion und dieses allgemeine Sichverständlichmachen auf das hin, um dessen Sinn es dabei geht (gehen soll), der
vorrangige Zweck der eigenen Arbeit.

Die künstlerisch Tätigen präsentieren ein individuelles Welt- und Selbst-Verständnis und teilen dieses der Allgemeinheit mit. In solcher Gegenwart vergegenwärtigenden Sinn-Präsentation verwirklicht sich die thetische und tätige Präsenz des Kunstschaffens. Trotz des normativen Vorrangs des künstlerischen Tätigseins beruht die Poetologie freier Kunst letztlich aber darin, dass erst in der präsentativen Vermittlung und Rezeption Kunst zu Sinn wird . Erst indem das Produzierte, d.h. der beanspruchte und mitgeteilte Sinn von Anderen verstanden wird, vollendet sich präsente Kunst. Fehlende Präsentationsmöglichkeiten und Resonanz lässt deshalb die künstlerische Betätigung auch (bis auf weiteres) sinn- und zwecklos erscheinen.

Rezeption: Verstehen statt Wahrnehmen. Präsente statt ästhetische Kunst
Trotz des normativen Vorrangs der künstlerischen Praxis besteht ein faktisches Übergewicht ihrer Präsentation und Rezeption bzw. ihrer präsentativen Vermittlung. In den traditionellen Ästhetiken sind diese beiden, analytisch zu unterscheidenden Ebenen zumeist vermischt. Aber ihre ontologische Differenz hat eine zentrale Bedeutung für die philosophische Betrachtungsweise von Kunst. Denn die individuelle Beurteilung einer Arbeit bezieht sich nicht auf den Sachverhalt, dass Kunstmachen ein Gut für sich sei. Künstlerische Praxis ist gut für den so Tätigen, insofern in diesem Tätigsein eine freigeistige Selbsterkenntnis und Lebenspraxis verwirklicht bzw. die Wirklichkeit der sinnvollen Aneignung eines
individuellen Gegenwartsverständnisses ein Allgemeingut wird. Darüber hinaus ist freie Kunstproduktion als Verwirklichungsgeschehen
geistiger Freiheit gut für alle und ein demokratisches Gut, insofern es dabei um den unersetzlichen Versuch geht, von der Freiheit des Geistes zum Zwecke einer allgemeinen Selbstverständigung öffentlichen Gebrauch zu machen. Welche Bedeutung und
welchen Wert Kunst im einzelne für die kulturelle Selbstbestimmung der Allgemeinheit hat, muss sich herausstellen können. Die gewöhnliche Kunstrezeption betrachtet das voraussetzungsvolle Faktum, dass Individuen existieren, die für poetische Praxis tätig sind und für sich und die Allgemeinheit freigeistige Kunst produzieren, unbedacht als etwas Selbstverständliches. Eine philosophische Reflexion der Kunst nimmt die gesellschaftliche Gegebenheit und individuelle Tatsache künstlerischen Tätigseins nicht für selbstverständlich; sie expliziert vielmehr die konstitutiven Voraussetzungen für die Faktizität dieser Praxis.

Was aber im Einzelfall gute, was schlechte, was schöne, was unsinnige Kunst ist, welche Wahrheit der Kunst verstanden wird und welche Kunst nur als schöner Schein gefällt und gefallen soll – darüber urteilt der einzelne Rezipient und die interessierte Öffentlichkeit, die die Einzelnen zusammen als Allgemeinheit (Publikum) bilden. Das Verstehen des Sinns des Präsentierten verlangt den Rezipienten ein reflektiertes, seinerseits freigeistiges Erkenntnisinteresse ab. Die Rezeption präsenter Kunst gelingt nicht, wie dies vielleicht für schöne Kunst der Fall sein mag, in der künstlich zweckfreien Einstellung eines interessenlosen Wohlgefallens. Die versuchte Wahrheit von Kunst entzieht sich einer naiven Selbstverständlichkeit des Gegenwartsverstehens. Die Kunstrezeption kann nur unter der Voraussetzung einer individuellen Bereitschaft zur geistigen Auseinandersetzung gelingen. Nicht durch die ganz beliebige, bloß schöngeistige Haltung wird etwas zu Kunst; dargebotene Kunst erweist sich als sinnig, d.h. als ein allgemeines Welt- und Selbstverstehen hervorrufendes Ereignis, sofern sie individuell, d.h. bei jedem rezipierenden Individuum jedesmal neu, verstanden wird. Im Verstandensein der präsentierten Sinns ereignet sich Kunst als Wahrheit. Dann ist die individuelle Erkenntnis (von Seiten der Rezipienten) ein Verständnis der individuellen Erkenntnis von Gegenwart (von Seiten der Produzenten).

Künstler, die ihre Präsentationsmöglichkeit nicht
einfach dafür nutzen, die von ihnen verfertigte Arbeit zu präsentieren, sondern die situative Präsenz und Aktion der Kunst derart gebrauchen, dass die anwesenden Rezipienten einen Bestandteil der Produktion bilden, radikalisieren die Erkenntnisfunktion von freier Kunst – solche situationistische Praxis legt den Wahrheitskern der Kunst, den Selbst-Verständigungsprozess, für die beteiligten Individuen als ein Allgemeines frei. Diese Kunstpraxis funktioniert – wenn sie funktioniert – als die ereignishafteste Aneignungsform unserer Gegenwart.

 
 
 
 
 
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